Ganz groß, Chef!

(Bildnachweis: Harsh Patel/flickr.com/CC)

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Vorgesetzte verlangen oft mehr von ihren Mitarbeitern, als sie selbst geben. In den Chefetagen mangelt es an sozialer Kompetenz. Dabei geht es auch anders.

Dan Price überraschte seine Mitarbeiter im Frühjahr 2015 mit einer schier unglaublichen Bekanntmachung: Innerhalb der nächsten drei Jahre wird er das Jahresgehalt jedes einzelnen Mitarbeiters auf mindestens 70.000 Dollar erhöhen. Das Geld zur Umsetzung seiner Pläne soll nicht nur aus dem jährlichen Gewinn des Unternehmens stammen. Um die Gehaltsschere zwischen ihm und seinen Mitarbeitern zu schließen, kürzt der Gründer des Finanzdienstleisters Gravity Payments aus Seattle auch sein eigenes Gehalt: Aus knapp einer Million werden 70.000 Dollar. Der 30-Jährige setzt damit ein Zeichen gegen Ungleichheit. Er möchte, dass seine Mitarbeiter glücklich sind, sich ein Haus kaufen und in die Ausbildung ihrer Kinder investieren können. Dafür verzichtet er selbst auf teure Autos und Luxus-Villen.

Dan Price beweist wahre Größe. Doch Chefs wie ihn gibt es zu selten. Erste Ergebnisse einer Studie des Karrierenetzwerks Xing und der Marktforschungsfirma Statista zeigen: In der Bundesrepublik erwarten Vorgesetzte sehr viel von ihren Angestellten, wollen ihnen selbst aber nur sehr wenig Flexibilität zugestehen. Überstunden ja, Anpassen der Arbeitszeiten an Veränderungen im Privatleben der Mitarbeiter nein. Es mangelt an Sozialkompetenz. Ob der Mitarbeiter neuerdings am Nachmittag die Kinder aus der Kita abholen muss, oder ihm sein Gehalt kaum zum Leben reicht, seit er eine Pflegekraft für die Eltern engagieren muss: sein Problem. Angestellte sind in den Köpfen von Vorgesetzten häufig nur Variablen im Unternehmen, die möglichst viel bringen, aber bitte keine Ansprüche stellen sollen.

Wichtige Führungskompetenzen bleiben auf der Strecke. Dabei geht es auch anders. Kaum jemand erwartet von seinem Vorgesetzten, dass er für die Belegschaft sein Gehalt kürzt, so wie es Dan Price tut. Es würde schon reichen, wenn der Chef seine Angestellten als Individuum mit eigenem Lebensplan wahrnimmt und seine Arbeit für das Unternehmen schätzt.

Als meine Bekannte Steffi in einem Mitarbeitergespräch eine Gehaltserhöhung forderte, fragte ihr Chef sie tatsächlich, wofür sie das geforderte Geld denn überhaupt brauche. Dass ihr die Gehaltserhöhung wegen der von ihr erbrachten Leistung zusteht, kehrte er unter den Tisch. Was das mit der Arbeitsmoral macht, liegt auf der Hand. Steffi hat sich einen neuen Job gesucht. Bei einem Arbeitgeber, der ihre Arbeit wertschätzt.

Was in den Mitarbeitern von Gravity Payments an dem Tag vorging, an dem ihr Chef sein Gehalt für sie kürzte, stelle ich mir so vor: Einige werden sich ungläubig gedacht haben: „Macht der Witze?“ Vielen war wahrscheinlich einfach nur ein Grinsen ins Gesicht gemeißelt, sie haben ihre Familien zum Essen eingeladen oder ihren Freunden ein Bier ausgegeben. Doch eine Reaktion wird bei allen gleich gewesen sein: Sie gehen ihrer Arbeit bei Gravity Payments jetzt noch lieber nach, denn das Wichtigste, was Dan Price’ Geste vermittelt, ist Anerkennung. Anerkennung der Arbeit und Anerkennung des Menschen, der hinter der Arbeitskraft steckt.

Sicherlich gibt es auch in Deutschland löbliche Unternehmen und tolle Chefs, die all diese Anforderungen an gute Führung erfüllen. Doch selbstverständlich sind diese Eigenschaften in der Chefetage leider noch lange nicht. Vielen ist nicht klar, dass gute Führungskompetenz nicht alleine durch Management-Lehrbücher und Kurse an privaten Elite-Hochschulen vermittelt werden kann. Am Ende, das bestätigt der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Warren Bennis, ist die Kernkompetenz von Führung eben doch: Charakter. Dan Price hat uns das bewiesen.

 

Dieser Text ist in abgeänderter Form zuerst erschienen als Kolumne „Die Jugend von heute“ bei The European.