Der Brexit
Er war für viele junge Briten undenkbar – und doch stimmte die Mehrheit der WählerInnen dafür. Auch in Deutschland hat dieses Ergebnis die Jungen wachgerüttelt.
23.6.2016: Briten stimmen für den EU-Ausstieg
Diese Nachricht erwischte mich eiskalt am Morgen des 24. Juni. Gleich nachdem mein Wecker geklingelt hatte, machte ich mein Handy an und starrte auf die Eilmeldung. Das konnte nicht sein. Noch mal Augenwischen. Da stand es immer noch. Schnell schaltete ich das Morgenmagazin ein. Vielleicht hatte das Fernsehen andere Informationen als das Internet. Doch dort war man längst vom Schock zur Analyse der Ergebnisse übergegangen: Bei einer Wahlbeteiligung von 72,3 Prozent stimmten 51,9 Prozent der WählerInnen dafür, die EU zu verlassen, 48,1 Prozent wollten bleiben. Es war ein knappes Ergebnis. Aber es zählte.
Besonders bitter ging das Referendum für die jungen WählerInnen aus: 73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen stimmten für den Verbleib Großbritanniens in der EU, 62 Prozent der 25- bis 34-Jährigen. Eine eindeutige Mehrheit – die ebenso eindeutig überstimmt wurde. Besonders die älteren Wählergruppen stimmten klar für den Ausstieg aus der EU: 57 Prozent der 55- bis 64-Jährigen, 60 Prozent der über 65-Jährigen. Alt überstimmt Jung, Klappe die Erste.
„Für mich war dieser Tag schrecklich. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wegen einer politischen Entscheidung geweint.“
So erinnert sich Ben, Jahrgang 1987, an den Tag. Er ist aufgewachsen in West Sussex, lebt mittlerweile in London. »Es fühlte sich an – und tut es immer noch –, als ob mir ein wichtiger Teil meiner Identität als britischer Europäer weggenommen wurde. Mein Mitbewohner und ich streiften am Tag der Entscheidung zusammen durch die Straßen und wunderten uns, wie solch eine politische Kampagne voller Lügen überhaupt hatte stattfinden dürfen. Ich war wütend und aufgebracht.«
Selbst schuld an der Misere?
Schnell mussten sich die jungen Briten den Vorwurf gefallen lassen, sie seien selbst schuld an der Misere – schließlich sei ihre Wahlbeteiligung unterirdisch gewesen. Verschiedene Zahlen machten die Runde, erst sollten sich nicht einmal 40 Prozent der Jungen am Referendum beteiligt haben, später korrigierte eine Studie der London School of Economics: 64 Prozent der 18- bis 24-Jährigen hatten beim Referendum ihre Stimme abgegeben. Das sind zwar immer noch weniger als bei den über 65-Jährigen, von denen sich ungefähr 90 Prozent beteiligt haben, aber doch wesentlich mehr als anfangs behauptet. Es bleiben 36 Prozent, die nicht zur Wahl gingen – beschweren dürften wir uns den Alten zufolge also immer noch nicht.
Maria, Jahrgang 1989, kann sich gut vorstellen, dass einige junge BritInnen sich des Ergebnisses so sicher waren, dass sie es nicht als dringend empfunden haben, abzustimmen. Die Deutsche ist zwei Wochen nach dem Votum nach London gezogen. »In meinem britischen Bekanntenkreis, in dem alle so zwischen 24 und 32 Jahre alt sind, waren alle wählen, aber von ihnen hat auch niemand im Geringsten mit diesem Ergebnis gerechnet. Alle waren unfassbar geschockt, die Vorstellung, nicht mehr Teil der EU zu sein, war einfach absurd für sie.«
Kam diese Überraschung vielleicht davon, dass viele junge Leute in einer der von den Medien später immer wieder beschriebenen Filterblase gelebt haben, in der sie sich nur mit Gleichgesinnten umgaben und nicht merkten, dass die Stimmung landesweit Richtung Brexit kippt? Ben war darauf vorbereitet, dass viele für den Brexit stimmen würden: »Ich dachte mir schon, dass es knapp wird, aber nicht, dass sie es wirklich schaffen. Das große Problem an diesem Referendum war, dass die Frage, die gestellt wurde, einfach zu vage war. Jeder, der für den Brexit gestimmt hat, wollte die EU auf eine andere Weise verlassen und aus anderen Gründen. Das macht das Argument ›Der Wille des Volkes zählt‹ lächerlich.«
Abstimmung zwischen Alt und Jung?
Das passt zu den Argumenten einiger vom Magazin Zeit Campus befragter junger Leute, die für den Brexit gestimmt haben (insgesamt 27 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 38 Prozent der 25- bis 34-Jährigen). Die Begründungen ihrer Entscheidung reichen von »Das war reine Propaganda« bis zu »Ich hab mich nicht gekümmert, weil ich nicht verstanden habe, wie weitreichend die Konsequenzen sind.« Am Ende fühlte es sich für viele an wie eine Abstimmung zwischen Alt und Jung. Die Alten, die einfach das verklärte System der Vergangenheit zurückhaben wollten, bestimmten über die Zukunft der Jungen, die noch mehr als ihr halbes Leben in diesem System ver- bringen müssen.
Viele junge BritInnen wollten sich das nicht gefallen lassen. Maria, die verunsichert war, ob sie nach dem Referendum noch in London willkommen sein würde, bekam jede Menge Zuspruch von ihren FreundInnen: »Sie entschuldigten sich für ihr Land, schämten sich für das Ergebnis und sagten, ich solle jetzt erst recht – quasi aus Protest – nach Großbritannien ziehen.« Dort angekommen, konnte sie beobachten, wie aus Wut und Enttäuschung der jungen BritInnen Tatkraft wurde: »Es gab viele Demonstrationen, eine Freundin von mir ging jede Woche auf die Straße. Nach ein paar Monaten kippte die Stimmung aber, es folgte Resignation. Einige haben sich in der Zwischenzeit mit der Situation abgefunden, manche haben Angst. Ein Freund konnte sich nicht mehr mit seinem Land identifizieren und ist letztes Jahr ausgewandert. Einige meiner Freunde versuchen, EU-Pässe zu bekommen – zum Beispiel über Familienangehörige, die in anderen EU-Staaten leben.«
Besonders nach dem Brexit: Europa nicht den Populisten überlassen
Eine EU ohne Großbritannien – und mit der Gefahr, dass weitere Staaten dem Beispiel folgen könnten –, mit eingeschränkter Reisefreiheit und BürgerInnen, die klar sagen: Europäische Union, nein, danke. Das alles war auch für viele junge Deutsche alarmierend. »Mir war nach dieser Entscheidung klar, dass ich jetzt was tun muss, dass man Europa nicht den Populisten überlassen kann«, beschreibt Silvan, Jahrgang 1998, seine Gefühle nach dem Brexit. »Die Idee, die hinter dem europäischen Projekt steht, dass Menschen und Staaten, die vor ein paar Jahrzehnten noch die Waffen gegeneinander erhoben haben, jetzt in Frieden zusammenarbeiten und -leben, dass die Menschen frei reisen können, das alles war auf einmal in Gefahr.«
Das gesamte Kapitel nachzulesen in „Macht Platz!“, erschienen im Campus Verlag.
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