Engagierte Jugend: Tante Inge verbindet Generationen
Was, wenn die größte Not eines Menschen die Einsamkeit ist? Das Projekt „Tante Inge“ bringt Junge und Alte zusammen.
Als Kerstin Müller zum ersten Mal ihre 89 Jahre alte Großtante trifft und spürt, wie einsam sie lebt, beschließt sie, dass im Alter niemand alleine sein sollte. Zusammen mit sieben weiteren Freunden startete sie im Januar 2014 ehrenamtlich das Projekt „Tante Inge“. Es bringt junge mit alten Menschen als eine Art Tandempartnerschaft zusammen.
Um zu erfahren, was sich alte Menschen wirklich wünschen und welchen Hobbys sie am liebsten nachgehen, führte das Team von „Tante Inge“ eine Umfrage unter 100 SeniorInnen in Berlin durch. Seit dem organisieren die Freunde Events wie Stricknachmittage, Kinoabende oder Cocktailpartys auf der Dachterrasse eines Altenheims. Dort haben alt und jung gemeinsam eine gute Zeit und finden im Idealfall eine Freundin oder einen Freund aus der anderen Generation, mit der oder dem sie sich weiterhin treffen.
Welches Ziel hat das Projekt „Tante Inge“?
Kerstin: Mit „Tante Inge“ wollen wir eine Art Nachbarschaftshilfe zwischen Generationen aufbauen. Junge Menschen sollen mit alten Menschen aus ihrem Umfeld zusammen und ins Gespräch kommen, sich gegenseitig helfen, zusammen Zeit verbringen. Ältere Menschen sind nämlich oft fitter und interessierter als man glaubt – so wie Tante Inge. Die ist viel cooler als ich anfangs dachte.
Tante Inge gibt es also wirklich?
Na klar. Eigentlich ist sie meine Großtante. Ich habe sie zum ersten Mal an Weihnachten 2013 getroffen. Als meine Eltern und ich sie besuchten, war das seit 17 Jahren das erste Weihnachten, das sie nicht alleine verbringen musste. Sie hat keine Geschwister, ist früh Witwe geworden und mit ihren damals 89 Jahren hatte sie außerdem die meisten ihrer Freunde überlebt. Während unseres Treffens hat sie oft Dinge gesagt, wie „So gerne würde ich nochmal ins Kino gehen“, oder „Ich würde so gern nach Usedom fahren“. Weil sie ganz alleine und zudem nicht mehr so gut zu Fuß ist, bleibt sie aber meistens zu Hause. Ich fand das sehr traurig. Sie kann ja nichts dafür, dass sie niemanden mehr hat. Und sie ist bestimmt nicht die einzige, der es so geht. Ich dachte: „Es muss tausend Tanten Inges geben!“ Das hat mich sehr berührt, deshalb habe ich meine Gedanken auf Facebook mit meinen Freunden geteilt.
Und wie haben die reagiert?
Ich war total überrascht, weil sich sehr viele Freunde gemeldet und darüber diskutiert haben. Mit einigen habe ich mich ein paar Tage später getroffen. Wir haben gemeinsam überlegt, wie man älteren Menschen diese Art von doch relativ einfachen Wünschen erfüllen könnte.
Das Projekt „Tante Inge“ war geboren. Relativ schnell war den Freunden klar, dass Menschen zunächst für das Thema sensibilisiert werden müssen: Aufmerksamer durch die Welt gehen, die Mitmenschen beachten – auch die alten. Sie versuchten zunächst online und mit Postkarten auf sich aufmerksam zu machen. Um Partner für ihr Vorhaben zu finden, stellten sie die Idee einer Art Tandem-Partnerschaft zwischen Generationen in verschiedenen Altenheimen vor. Bald konnten dort die ersten Begnungsveranstaltungen zwischen alt und jung stattfinden, denn die Altenheime waren begeistert.
Kerstin: Die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen von großen Trägern ist für die Altenheime meist ein sehr großer bürokratischer Aufwand. Da waren wir hingegen total unkompliziert. Und die meisten Senioren sind ganz angetan von unserer Idee. Sie haben schließlich auch keine Lust, immer nur in der Cafeteria mit ihren Angehörigen Kaffee zu trinken oder mittwochs im Gemeinschaftsraum Bingo zu spielen. Die meisten sind geistig noch total fit und wollen gerne etwas unternehmen.
Anders als bei klassischen Ehrenamtlichen-Vermittlungen ist die Idee vom „Tante Inge“-Tandem nicht einseitig. Statt eine Person zu unterhalten, lernen sich beide kennen und verbringen gemeinsame Zeit. An feste zeitliche Rahmen ist das Tandem nicht gebunden. „Zum Beispiel unser Tandempaar Anna und Anne-Marie“, erzählt Kerstin, „Sie haben sich bei einem unserer Stricknachmittage kennen gelernt und waren sich sympathisch. Daraufhin haben sie sich regelmäßig getroffen, Anne-Marie hat Anna geholfen, Sachen für ihr Baby zu stricken. Auch jetzt ruft Anna Anne-Marie noch regelmäßig an und erzählt ihr vom Baby.“ In einem Berliner Café gestartet, ist das Projekt „Tante Inge“ mittlerweile ein deutschlandweit aktiver Verein geworden.
Und wie geht’s der „echten“ Tante Inge?
Kerstin: Ich besuche Tante Inge einmal im Monat und telefoniere mit ihr einmal pro Woche. Wir fahren manchmal einfach zusammen mit dem Auto in die Umgebung, zum Einkaufen – oder ins Kino. Das bereite ich dann ein paar Tage früher vor – sorge dafür, dass es im Kino eine Rampe gibt, die Tante Inge mit dem Rollator hochfahren kann, und reserviere Plätze in den vordersten Reihen. Manchmal reden wir aber einfach stundenlang in ihrer Wohnung, Tante Inge gibt auch sehr guten Rat bei Liebeskummer. Das schöne ist: Wir sehen uns nicht wie Ersatz-Enkel und Ersatz-Oma, sondern viel mehr wie Freundinnen.