Wir kleinen Spießer

(Bildnachweis: thinretrogod/flickr.com/CC)

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Die angebliche Spießigkeit der Generation Y ist in Wahrheit ein zunehmender Rückzug ins Private. Und ein Indiz für das Älterwerden.

Egoistisch, karrieregeil, unpolitisch. Wir, die sogenannte Generation Y, mussten uns schon viele Eigenschaften zuschreiben lassen. Jetzt kommt ein weiteres Label hinzu: Spießigkeit. Medien bezeichnen uns als Neo-Spießer, Wissenschaftler meinen kaum noch einen Unterschied zwischen unseren Verhaltensweisen und denen unserer Eltern zu erkennen und immer häufiger bezeichnen sich auch Mitglieder der Generation Y selbst als spießig.

Auf einer Podiumsdiskussion der Berliner Universität der Künste schienen die Gesprächsteilnehmer sogar stolz auf ihre angebliche Spießigkeit zu sein. Es gefalle ihnen eben, in einer Ehe zu leben, Sonntagabende vor dem Fernseher zu verbringen, Hornbrillen zu tragen und regelmäßig Geld auf einen Bausparvertrag einzuzahlen. Die Veranstaltung machte mich nachdenklich. Einige der genannten Kriterien treffen auch auf mich zu.

Nein, ich bin nicht verheiratet. Würde dies für die Zukunft jedoch nicht vollkommen ausschließen. Aber ja, ich verbringe Sonntagabende gerne mit einem Glas Wein oder einer Tasse Tee vor dem Fernseher, gucke Serien oder auch mal den „Tatort“. Ich trage keine Hornbrille, würde dies aber sicher tun, wenn ich eine Sehschwäche hätte. Und ja, ich habe einen Bausparvertrag. Meine Eltern haben diesen irgendwann für mich abgeschlossen. Bin ich deshalb ein Spießer?

Nein. Wörterbücher definieren den Spießer als engstirnigen, provinziellen Menschen. Neuerungen und Fortschritte lehnt dieser ab und orientiert sich an veralteten Grundsätzen. Zu dieser Spezies zähle ich mich nun wirklich nicht. Und auch bei anderen Mitgliedern meiner Generation kann ich diese Eigenschaften nicht im Allgemeinen feststellen. Ich habe Freunde, die sich einen Schrebergarten gekauft haben, andere, die sich einmal in der Woche die Hilfe einer Reinigungskraft holen. All das wird gerne als spießig bezeichnet. Kleingeistige, eindimensional denkende Menschen sind diese Freunde aber ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Sie sind weltoffen, tolerant, liberal, politisch engagiert. Warum also der Vergleich unserer Generation mit engstirnigen Kleinbürgern?

Bei der Diskussion über das neue Spießbürgertum geht es eigentlich gar nicht um die Spießigkeit in ihrem ursprünglichen Wortsinn. Was tatsächlich beschrieben wird, ist ein zunehmender Rückzug ins Private. Wir lernen wieder Stricken, laden unsere Eltern zum Sonntagsessen ein oder kochen unser eigenes Holunder-Ingwer-Gelee.

Kein Wunder, dass unsere Generation sich so entwickelt hat, erklärt der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann. Schließlich sei unsere Jugend durch viele Krisen erschüttert worden. Der Anschlag auf das World Trade Center in New York und der darauffolgende, anscheinend unendliche und unübersichtliche Krieg gegen den Terror. Die Wirtschaftskrise, die nicht nur das Finanzsystem durcheinanderwirbelte, sondern auch die Europäische Einheit, mit der wir doch aufgewachsen sind, auf eine harte, andauernde Probe stellte.

All das habe uns gezeigt, wie unsicher und unzuverlässig die gesellschaftlichen und politischen Strukturen sind, die wir gewohnt waren. So ist die Eigentumswohnung für uns zum Inbegriff der finanziellen Sicherheit geworden und der Kaffeeklatsch mit den Eltern befreit uns für wenige Stunden von der Informationsflut, die uns via Facebook, WhatsApp, Twitter und Co ständig erreicht.

Es ist also vollkommen okay, dass wir uns manchmal ein bisschen zurückziehen. Deswegen sind wir aber keine Spießer. Die Renaissance dieses Begriffs hat wohl auch damit zu tun, dass wir es mit den Bedeutungen von Wörtern meist nicht so genau nehmen. Wir haben gerne ein Modewort parat, mit dem wir einen neuen Trend unserer Generation beschreiben können. So ging es schon den Nerds, die ihre Hochphase erlebten, als man sich nach dem Erfolg von The Big Bang Theory plötzlich traute, sich als Comic-Liebhaber oder Naturwissenschaftler zu outen. Und ebenso den Hipstern, als deutsche Großstädte plötzlich von durchgestylten jungen Menschen mit Jutebeutel, Schnurrbart und Hornbrille überrannt wurden.

Jetzt merken viele Mitglieder der Generation Y, dass sie Sicherheiten gar nicht so schlecht finden – einen festen Job haben, eine eigene Wohnung und am Wochenende auch gerne einfach mal ihre Ruhe. Als schämten wir uns selbst für dieses Verhalten, suchen wir uns eine Bezeichnung, mit der wir uns fast schon über uns selbst lustig machen können: „Spießer!“

„Wenn ich groß bin, möchte ich auch einmal Spießer werden“, sagt das kleine Mädchen aus der bekannten Bausparvertrags-Werbung. Vielleicht ist es an der Zeit, uns einzugestehen, dass der Rückzug in sichere Strukturen auch ein kleines bisschen zum Älterwerden, zum „groß werden“ dazugehört. Alles, was wir derzeit fälschlicherweise als „spießig“ bezeichnen, wäre dann eine Idee normaler.

Vielleicht aber sind wir zu dieser Erkenntnis auch einfach noch nicht bereit. Solange müssen wir uns eben mit einer Ersatz-Tatsache anfreunden: In jedem von uns steckt ein kleiner Spießer.

 

Dieser Text ist in abgeänderter Form zuerst erschienen als Kolumne „Die Jugend von heute“ bei The European.